Wie sieht eine
Welt aus, die nicht in der Krise ist?
Und wie die Kirche?


In der Kirche wäre es jetzt hilfreich, sich an Römer 12 zu erinnern und sein Denken demütig zu erneuern, sich nötigenfalls „selbst als lebendiges und heiliges Opfer darzubringen, das Gott gefällt“, ohne sich dabei der Welt anzugleichen, sondern zu prüfen, was jetzt der Wille Gottes ist.
Das ist leichter gesagt als getan: Kann diese Anpassung ans Neue gelingen, wenn man z.B. fragt: In welcher Gesellschaft leben und glauben wir? Schon die Frage ist alles andere als neu, aber wir würden sie am liebsten noch einmal stellen. Als aktuelle Orientierungswaisen müssten wir uns so nicht eingestehen, dass unsere alte Deutemacht und ihre vorgefertigten Antworten verloren sind – um wenigstens weiter („neue“) Normalität zu spielen, ohne zu wissen, was das noch sein kann.

In welcher Gesellschaft leben und glauben wir? Das war die Frage von vorgestern, als es noch um volkskirchliche Zustände ging, angesichts derer man eine kollektive Identität für (fast) alle unterstellen konnte. Als die Frage dann gestern, Ende des 20. Jahrhunderts, erneut aufkam, wurde sie zwar mit viel Enthusiasmus wiederholt, aber genutzt hat es nichts, als man wusste, wie aus dem Milieukatholizismus von einst inzwischen eine Kirche unterschiedlicher Erlebnismilieus entstanden war. Absurd war, dieselbe Frage nach sozialen und kirchlichen Milieus sogar noch am Beginn des 21. Jahrhunderts zu stellen: Denn weder taugt der entsprechende pastorale Ansatz der Sinus-Milieus zur Bekämpfung von sozialen wie kirchlichen Folgen der Pandemie, noch hat er zuvor gesellschaftlich wie kirchlich resilienter gemacht. An der Tatsache, dass die Kirche heute vor die Frage ihrer Systemrelevanz gerät, zerbricht auch die allerletzte Hoffnung auf den erfolgreichen Einsatz pastoraler Hilfstechnologien.
Kurzum: Es hilft nicht, ein wenig anders zu handeln, wenn grundsätzlich anders gedacht werden muss, weil das Leben sich gerade neu erfindet – zusammen mit neuen Gefahren, aber auch neuen Chancen! Jede Handlung ist ein Kompromiss zwischen dem, was man will, und dem, was man für möglich hält. Ohne das Mögliche bedacht zu haben, riskieren wir, neue Fragen zu neuen Unterschieden nur zu erfinden, damit sie auf die alten Antworten und unser Handlungsschema passen; letztlich irgendwie „milieukatholisch“ daherkommen. Das führt nicht weiter und schon gar nicht zu einer angemessenen Diagnostik unserer Zeit. Wer aber die Zeit nicht versteht, versteht auch nicht ihren Geist – und ist ihrem Ungeist sogar ausgeliefert.
Angemessener ist heute, sich eine ganz andere Frage vorzulegen: Wie sieht eine Welt aus, die nicht in der Krise ist? Und wie die Kirche? Diese Fragen liegen aufgrund der Pandemie sprichwörtlich in der Luft. Gleichwohl sind sie komplex und ihre Beantwortung kann deshalb nicht einfach sein – trotz unserer vielfach fehlgeleiteten Neigung, mit solchen Vereinfachungen Ordnung in eine überfordernde Gegenwart zu bringen.

Das merkt man schon angesichts einer reflexartigen ersten Antwort, derzufolge eine Welt, die nicht in der Krise ist, eben nicht wie die heutige ist. Und doch enthält diese Frage eine böse Überraschung, wenn man versucht, ihr weiter auf den Grund zu gehen bei einem zweiten und dritten Antwortversuch: Eine Welt, die nicht in der Krise ist, kann keine Welt wie vor der Coronakrise sein. Erstens wäre sie dann morgen wie gestern - also überkommen. Zweitens wäre es eine Welt mit den alten statt neuen Krisen und drittens liefe es auf eine Welt hinaus, die ja die Bedingung der aktuellen Krise geliefert hat.
Und was für die Welt gilt, trifft tatsächlich auch auf die Kirche zu: Selbst wenn ein Impfstoff die Risiken einer Erkrankung ausschaltet und die wirtschaftlichen Folgen überwunden sind, steht die Kirche vor ihren alten Problemen der ramponierten Glaubwürdigkeit und ihres Strukturwandels - selbst dann, wenn ihre stärkere Digitalisierung sie gerade noch einmal den alten Traum von neuem, fruchtbaren Handeln träumen lässt.

Was folgt nun aus all dem?
Liegt die Konsequenz womöglich in einer Einstellungsänderung hin zu einer „resignativen Reife“¹? Sollte man sich besser damit abfinden, in einer permanenten Dauerkrise festzustecken – und weder vor- noch zurückzukönnen: Nach vorne nicht, weil die Angst vor unbekannten Transformationsordnungen lähmt und nach hinten nicht, weil jedwede Tendenz zur „Regression“² so furchtbar erscheint? Richtig daran ist zumindest, dass kein Zustand nach der Krise ist wie heute und auch nicht wie gestern – und wir streng genommen heute nicht wissen können, wie das Morgen aussieht, das nicht (mehr) in der Krise ist; selbst wenn sich eine stärkere Rolle der Frau bereits deutlich abzeichnet: Gesellschaftlich gesehen freilich mehr als Prognose aktueller Kräfteverschiebungen zwischen den Geschlechtern ihren Rollen und hin zur Bewegung von Frauen als neuen Akteuren sozialer Transformation,³ kirchlich gilt das in gewisser Weise sogar bereits als entsprechende Diagnose, – siehe Entstehung sowie Aktions- und Reichweite von Maria 2.0 in Deutschland oder in Frankreich die zwar chancenlose, aber erstmals offizielle Kandidatur von Anne Soupa als Nachfolgerin von Kardinal Barbarin als Erzbischof von Lyon vom Mai 2020, die vor allem in der außerkirchlichen Öffentlichkeit nicht nur eine breite Unterstützung genoss, sondern dort zugleich viel ungewohnte Sympathie für die Kirche und für die Gleichberechtigung einwarb.⁴
Problematisch wird es derzeit angesichts des Arguments der Systemrelevanz bestimmter Akteure: Wäre z.B. die Kirche relevant für das System der modernen Gesellschaft, so bliebe sie lediglich an diese gekettet und folglich irrelevant im Falle ihrer Auflösung (Postmodernisierung). Dafür gibt es jedoch zahlreiche Zeichen – nicht zuletzt die rigorose Vergemeinschaftung auf dem Rücken universaler Vergesellschaftung. Heute systemrelevant zu sein, bietet keine Überlebensgarantie für morgen; im Gegenteil: Es bezeichnet die zur Diskussion stehende Veränderungsmasse– nämlich sanierungsbedürftige Institutionen. Der moderne Zerfallsprozess sozialer Organisationen ist dafür bezeichnend: Heute werden immer stärker Institutionen, die die soziale Funktion der gesellschaftlichen Weitergabe von Bildung und Werten garantieren, durch digitale „Equipments“ sozialer Medien ersetzt, die stattdessen auf einen internen Kreislauf an Informationen zwischen Individuen zielen, die sich provisorisch miteinander vernetzen.⁵ Am Ende steht oftmals nicht nur die öffentliche Halbbildung, sondern eben auch die marginlisierte Institution, mitsamt ihren universalen Werten der Moderne - nicht zuletzt die Schule, Familie, der Staat und eben auch die Kirche.
Wenn wir wissen wollen, wie eine Welt bzw. die Kirche aussieht, die nicht in der Krise ist, gehört dazu, überkommene Selbstverständlichkeiten wie die des Konzepts einer Gesellschaft, heute aufzugeben. In Zeiten der modernen Gesellschaft musste jeder und alles eben modern sein - Kirche inklusive. Die „neue Unübersichtlichkeit“⁶ der Moderne war aber nur der Anfang - heute herrscht mangels der Unfähigkeit durchzuregieren, eine pralle Buntheit bis in die Protestbewegungen hinein. Die Kritik solcher Bewegungen kommt nicht mehr aus einförmigen Ideologien, sondern sie entsteht (wie im Fall der Maskengegner) qua Gelegenheit, aus genauso verschiedenen Anlässen wie Teilnehmern. Was wohl so viel bedeutet wie: Die Zukunft wird bunt – oder sie wird nicht!

Was das für die Berufungspastoral bedeutet, ist leider aus den Studien von Pierre Bourdieu ziemlich naheliegend: Genauso wie beim staatlichen Führungspersonal muss man auch in der Kirche aus der Uniformitätsfalle heraus. Denn überall herrscht üblicherweise eine massive Tendenz der Mitarbeiter vor, sich und ihre soziale Gruppenzugehörigkeit immerzu zu schützen und durch passgenaue Neuzugänge und selektive Berufslaufbahnen Einfluss in der Organisation zu sichern.⁷ Es ist schlicht noch nicht bunt genug, solange die kirchlichen Berufsgruppen sich nebeneinander rekrutieren und sozialisieren. So etwas führt statt in Wettbewerb um die beste Praxis vielmehr in Koordination der einen durch die anderen und von daher in Konflikte um Machtansprüche.

Ob eine verordnete Buntheit wie jene beim Zusammenschluss von Gemeinden zu pastoralen Räumen besser passt, darf durchaus bezweifelt werden. Solche Notlösungen neigen zwar schon von selbst zu Uneinheitlichkeit und präsentieren sich von daher als Kompromiss mit der aktuellen Wirklichkeit vor Ort, aber sie schreiben sich mit Stellen- und Organisationsplänen nichtsdestoweniger ins „eiserne Gesetz der Bürokratisierung“⁸ kirchlichen Planens und Handelns abermals ein. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem überall unklar ist, wie es weitergeht; in einem Moment, in dem man innehalten sollte, bevor man ein neues System baut, das die Welt und ihr kirchliches Verhältnis angemessen reflektiert. Das gilt erst recht, seit der Begründungsanspruch von Systemen nicht mehr innerhalb der Systeme liegt und von ihnen erfolgreich verwaltet werden kann (Stichwort: Kirche als Heilsbürokratie), sondern außerhalb, nämlich in der Zeit und in ihren Widersprüchen.

Die Folge: Es lohnt nicht mehr, alle Widersprüche für die Zukunft loszuwerden. Es geht auch nicht mehr (während des Lockdowns haben wir z.B. gesehen, wie nachbarschaftliche Solidarität stieg genauso wie der Sozialversicherungsbetrug). Die Identität einer lebendigen Sache ist nicht wichtiger als ihr Widerspruch, weil dieser produktiv und fruchtbar eben das Lebendige an ihr ist. Nur das Tote kann mit sich identisch sein. Weil es heute anscheinend nur um ein (niemals widerspruchsfreies) „Werden im Vergehen“⁹ gehen kann, kommt die Handlungs- und Orientierungssicherheit nicht mehr aus den ersten, absoluten Anfängen, sondern daher, immer wieder etwas damit neu anzufangen. Nicht zuletzt in dieser Hinsicht heißt Kirche wohl, ein Mysterium zu feiern: nämlich auf einem Ereignis zu fußen, das sich immer wieder aktualisiert und statt sich abzunutzen nur umso frischer wirkt, je öfter es benutzt wird.

Interessanterweise sind wir jedoch fast allerorts gerade dabei, uns diese Buntheit selbst auszutreiben: Es wird etwa zunehmend um Verantwortung für einen Planeten gestritten. Während der Pandemie wurde immer wieder um die richtige Balance zwischen Freiheit oder Sicherheit gerungen. Und auf dem synodalen Weg scheint sich die Frage auf bereits bekannte Reformen zuzuspitzen. Immerzu, als ginge es nur um einen erstrebenswerten Zustand, und um den einen richtigen Weg dahin – kurzum: um das je bessere Wissen.
In Sachen Zukunftsforschung kann es aber kein besseres Wissen geben, nur Besserwisserei. Schlimmer noch: Jedes vermeintlich bessere Wissen rückt (willentlich oder nicht) weit weg von der Diagnose unserer Zeit, die ja gerade nicht mehr auf ersten wahren Sätzen oder Prinzipien beruht, sondern auf kontinuierlicher, wenngleich unterschiedlicher und nicht zuletzt streitbarer Forschung – siehe das neue Coronavirus.
Wie eine Welt bzw. die Kirche aussieht, die nicht in der Krise ist, muss man heute zwar grundsätzlich fragen und damit auf das Jenseits von Gewohntem und Allzuselbstverständlichem zielen. Trotzdem darf keine definitive Antwort erwartet werden; sie wäre kontraproduktiv. Beim Werden bleibt naturgemäß unklar, wann es reif ist – immerzu und zugleich niemals.¹⁰ Immerhin darf man sich darüber freuen, wenn und wo immer die Welt und die Kirche heute in Bewegung sind.

Oder nicht? Dass der (synodale) Weg das Ziel ist, klingt ein wenig dürftig nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner, aber die Bewegungsspielräume sind damit keineswegs ausgeschöpft - ganz im Gegenteil. Bewegung ist nicht nur eine Metapher für Veränderungsprozesse, sondern sie ist wesentlich bedeutungs- und folgenreicher:¹¹ Zum einen markiert Bewegung soziologisch den Übergang von Organisationsstrukturen zu Bewegungskulturen; in dieser Hinsicht wertet sie die soziale Form der Bewegung als ernstzunehmende Reformbewegung auf. Zum anderen kommt Bewegung nur zustande, wenn sie auch intellektuell der Fall ist – wenn sich (Selbst-)Verständnisse entsprechend verändern, sprich: bewegen.

All das liegt nicht in einer Hand, es liegt auch nicht in mehreren Händen (etwa der Synodalversammlung), sondern in allen – den gegenwärtigen wie den zukünftigen genauso wie den beteiligten und selbst den unbeteiligten, die etwa durch Verzicht über die Buntheit mitentscheiden. Beim Thema der Zukunft gilt Dürrenmatts Diktum (aus den „Physikern“) ohne den geringsten Abstrich: Was alle angeht, können nur alle lösen!

Eine Kirche genauso wie die Welt, die nicht mehr in der Krise ist, wird vermutlich zum Segen für die einen und Fluch für die anderen - Widersprüche sind notwendig, nicht zuletzt zur gebotenen Toleranzübung. Wo sie als „schwierig“ erlebt werden, wissen wir, dass damit etwas gesagt wird, was wir nicht ohnehin schon wussten – und wir folglich bereits im Neuen leben! In den Dingen des neuen Lebens kann das Alte aber nicht mehr maßgebend sein. Konkret gesprochen: Im Zeitalter der Industrialisierung bestach eine Gesellschaft der Produktion zugleich durch die Reproduktivität ihrer selbst und ihrer Institutionen und sozialen Verhältnisse.¹² Das Neue von heute ist untrennbar mit dem Ende dieser Logik der Wiederherstellung und Bestandserhaltung verbunden. Für die Kirche und ihre Berufungspastoral kommt es jetzt vor allem darauf an, mit wem sie was tut – es ist die Doppelfrage nach ihrem Personal und ihrer Botschaft. Anders gefragt: Wie könnte eine Botschaft, die heute der Unterschied sein soll, der den Unterschied (zur Krise, ja zur Welt) macht, von den immerzu Gleichen (ob Haupt- oder Ehrenamt) an die ewigen „Ungleichen“, nämlich die Laien, wie immer kommuniziert werden? Müsste man nicht von einer Pastoral der Aktiven, ja Wissenden, ja von einer Pastoral des Wissens (und seiner Macht) auf eine Pastoral des Lebens umstellen – und seine religiösen Wahrheitsansprüche erst einmal als Existenzkunst unter Beweis stellen und selbst fragiler werden als Institution bzw. als ihr Botschafter? Wie könnte es dann noch bei der relativ starren Differenzierung zwischen den kirchlichen Berufsgruppen bleiben? Oder ihrem je unterschiedlichen Handlungs- und Bildungsprofil? Von ihrer Bezahlung und ihrer Geschlechtszugehörigkeit ganz zu schweigen.

Wahrscheinlich ist es deshalb leichter, sich immer wieder neu in der Krise einzurichten, als das Ungeheure zu wagen – und sich auf der Höhe der eigenen Botschaft und ihrer gegenwärtigen Herausforderungen neu zu erfinden. Die Rede von der Krise geriete zum Alibi einer Verweigerungshaltung - nämlich die der Postmodernisierung.
Während die Modernisierung der Berufungspastoral nur Handlungsprobleme sah, hebt ihre Postmodernisierung vor allem ein Bildungsproblem hervor, genauer gesagt: ein Problem der Aus- und Weiterbildung, der sozialen Formierung und Kooperation ihres gesamten Personals. Statt Exklusivität der pastoralen Mitarbeiter untereinander und gegenüber den Bedürfnissen von Laien, scheint sich dabei mehr die Inklusion all ihrer potentiellen Botschafter nahezulegen. Das schließt sogar eine gewisse De-Professionalisierung ein, wenn nicht nur die Grenzen zwischen den Berufsgruppen sinken, sondern auch jene in Richtung derjenigen, die als Laien vermutlich vor allem über ihre Versorgungsbedürfnisse und weniger mit ihrer elementaren Spiritualität bisher wahrgenommen wurden. Dem bisherigen Bestreben um größtmögliche Professionalität innerhalb jeder Berufsgruppe widersetzt sich im Rahmen der Postmodernisierung auf Dauer eine neue Aufmerksamkeit für die latente und deshalb leicht übersehene Funktion hochgradig professionalisierter Mitarbeiter, nämlich als Diskurspolizei zu fungieren, und das heißt sowohl einander als auch das Terrain kirchlichen Handelns mit je eigenen Mitteln, Wissen und Ansprüchen wahrzunehmen und gemeinsam zur je richtigen Praxis anzuleiten.¹³ Das Unwissen der einen ist dann nicht länger die Bedingung für das Wissen und die Macht der anderen, wenn und insofern es bei der neu gefragten Existenzkunst um die je eigene Authentizität des vorgelebten Lebens geht.



Michael Hochschild
Studium der Soziologie, Pädagogik, Philosophie und Theologie unter anderem in Hamburg, Frankfurt (Sankt Georgen) und Bielefeld, wo er bei Niklas Luhmann arbeitete und promovierte. Er ist Forschungsdirektor und Professor für postmodernes Denken am Time-Lab Paris/Institut d'études et de recherches postmodernes. Time-Lab ist ein international und interdisziplinär ausgerichtetes Pariser Institut für postmoderne Forschung und Lehre.