Berufungsklärung

… und was ist mein Weg?

Widerstände und Hindernisse in der Berufungsklärung

 

(Junge) Menschen haben es oft nicht leicht, ihren Weg zu finden. Die Berufung für das eigene Leben zu klären, bringt Spannung mit sich. Mit dieser Spannung beschäftigt sich Sr. Christine Klimann sa – genauer gesagt mit der Spannung zwischen dem Ideal-Ich und dem Real-Ich, wie es in der christlichen Anthropologie nach L.-M. Rulla heißt. Wie löse ich diese Spannung, um meiner Berufung ein Schritt näher zu kommen?

 

Annalisa spürt seit langem einen Ruf zum Ordensleben, aber sie kann einfach nicht die richtige Gemeinschaft finden. Nach Jahren der Suche ist sie müde und frustriert, und außerdem merkt sie, dass sie ihren Beruf, Psychologin, nicht aufgeben möchte.

 

Vor Helena liegt das Leben reich an vielfältigen Möglichkeiten. Ihr Problem ist nicht, dass sie keine Jobangebote hat – sie weiß bloß nicht, welches sie annehmen soll: Seit fünf Jahren hat sie niemals einen Vertrag angenommen, der sie länger als ein Jahr verpflichtet hätte. Denn woher soll sie wissen, was sie eigentlich will?

 

Hans-Martin lockt die Idee, Priester zu werden, er würde gerne den Menschen etwas von der Nähe Gottes vermitteln. Aber macht das in dieser skandalgeschüttelten Kirche, in der ein Priester nach dem anderen wegen Burnout aufgibt, Sinn? Außerdem ist da doch diese Sehnsucht nach Intimität, die einfach nicht weggeht …

 

Susanna hat immer davon geträumt, eine Familie mit vielen Kindern zu haben, aber jetzt hat sich ungeahnter Weise die Möglichkeit aufgetan zu promovieren. Ihre Energie teilt sie zwischen ihrem Schreibtisch und der Sakristei auf: Sie ist in ihrer Pfarrei für die Ministrantinnen und Ministranten verantwortlich. Jetzt ist sie 35 Jahre alt und fragt sich manchmal, ob ihr noch der richtige Mann über den Weg laufen wird. 

 

Matteo hat es geschafft: Ein unbefristeter Vertrag im Landwirtschaftsministerium – wenn er will, kann er bis zur Rente bleiben und hat sogar Aufstiegschancen. Er hat so hart dafür gearbeitet; jetzt wird er sich bald die ersehnte Wohnung mit Gartenanteil kaufen. Und trotzdem geistert ihm immer wieder diese lästige Frage durch den Kopf: War das eigentlich alles oder gibt es noch mehr im Leben?

 

Jakob hatte vor ein paar Monaten ein ganz starkes Erlebnis und den Eindruck, dass Gott ihn in ein kontemplatives Leben ruft. Seither ist sein Leben durcheinander gewürfelt. Manchmal spürt er große Freude, dann wieder hat er solche Angst, dass er es morgens kaum aus dem Bett schafft. Ihm ist nicht klar, wie es weitergehen soll. Sein Studium hat er erstmal ruhen lassen.

 

So unterschiedlich diese Geschichten sind – sie haben eines gemeinsam: Diese jungen Menschen haben es nicht leicht, ihren Weg zu finden. Um die Dynamiken und Schwierigkeiten in der Berufungsfindung besser zu verstehen, spricht L.-M. Rulla in seiner christlichen Anthropologie[1] von einem Ideal-Ich, einem Real-Ich und von der Spannung zwischen diesen beiden inneren Strukturen. Ich finde diese Theorie hilfreich, um den Weg einer Berufung und auch die Schwierigkeiten und Hindernisse besser zu verstehen. Daher möchte ich erst kurz die Theorie vorstellen und dann auf die konkreten Geschichten eingehen.

 

Das Ideal-Ich besteht aus dem, wonach ich mich ausrichte und wonach ich strebe: Werte, Ideale, Sehnsucht. Fragen nach dem Ideal-Ich sind: Wer sind meine Heldinnen und Helden? Wie möchte ich als 80-Jährige auf mein Leben zurückschauen? Wenn zum persönlichen das institutionelle Ideal-Ich (z. B. der Ordensgemeinschaft / Diözese / Schwiegerfamilie) dazu tritt, kann das zu Spannungen führen.

 

Das Real-Ich dagegen besteht aus all dem, was mein Leben und meine Person gegenwärtig ausmacht: Bedürfnisse, Ängste, Vorlieben, Verletzungen, Begabungen und blinde Flecken. Das, was ich an mir mag und das, was ich nicht an mir mag.

 

Leben vollzieht sich in der Spannung zwischen dem Ideal-Ich und dem Real-Ich. Diese Spannung kann viele Formen annehmen, stark oder schwach ausgeprägt sein, motivieren oder lähmen, es der Person ermöglichen, an sich zu arbeiten, oder alle Anstrengungen torpedieren.  

 

Der Weg der Berufung hat meist zuerst seinen Schwerpunkt auf der Seite des Ideal-Ichs: Ich erlebe mich als von Gott angesprochen, richte Sehnsucht und Ideale auf ihn hin aus und entwickle die Bereitschaft, auf seinen Ruf mit konkreten Entscheidungen zu antworten. Dann geht es darum, immer mehr mein Real-Ich, in meine Antwort auf Gottes Ruf mit einzubeziehen. Die Herausforderung ist es dann, meine persönliche Spannung zwischen den beiden so zu leben, dass sie für mich stimulierend und fruchtbar wirkt.

 

Wenn wir uns mit dieser Brille nun die konkreten Geschichten anschauen, sehen wir, dass es an verschiedenen Stellen hakt. Manche Schwierigkeiten liegen eher auf der Seite des Ideal-Ichs. Hohe Ideale sind für Matteo vermutlich unheimlich. Der Stimme seines unruhigen Herzens steht er misstrauisch gegenüber. Berufungsbegleitung würde hier bedeuten, Horizonte zu öffnen, Fragen zu wecken, Mut zu machen, der Spur der Sehnsucht zu trauen. Manchmal muss Berufungspastoral auch locken, rufen, werben. Erstaunlich viele Seminaristen erzählen, dass sie einmal von einem Priester gefragt wurden, ob ein geistlicher Beruf nicht etwas für sie wäre. Das zeigt, dass Berufungspastoral manchmal auch locken, rufen und werben muss.

 

Annalisa und Hans-Martin haben keine für sie anziehende Perspektive gefunden. Wenn die Realität der Ordensgemeinschaften und der Diözesen kein erfüllendes Leben verheißen, ist es nicht verwunderlich, dass junge Menschen sich gegen diese Lebensformen entscheiden. Annalisa und Hans-Martin fragen sich aber auch – auf der Ebene des Real-Ichs – was sie wollen. Es ist ein Abwägen zwischen den Optionen: Als Psychologin arbeiten oder als Ordensfrau womöglich eigene Pläne hinten anzustellen? Priester sein oder eine Partnerschaft leben?

 

Helena ist eine von vielen jungen Erwachsenen, die auf diese Frage keine Antwort wissen. Das hat wohl auch mit einer tiefsitzenden Unsicherheit zu tun. Wer bin ich und wer will ich sein? Die Fülle an Antwortmöglichkeiten und der Erwartungsdruck unserer Gesellschaft machen es diesen unsicheren Menschen nicht einfacher. Denn jede Entscheidung für etwas ist immer auch eine Entscheidung gegen etwas – und das kann für Menschen, die ohnehin unsicher sind, bedrohlich wirken. Helena wird Ermutigung und einen Raum brauchen, indem sie mit sich selbst und mit ihren inneren Freuden, Hoffnungen, Ängsten und Verletzungen vertrauter werden kann. Und vielleicht muss sie sich tatsächlich erst selbst finden, bevor sie eine definitive Entscheidung für ihr Leben treffen kann.

 

Das ist anstrengend, und das ist wahrscheinlich auch Susannas Problem. Sich aktiv auf Partnersuche zu begeben, würde bedeuten, sich auch mit den eigenen Ängsten und Widerständen auseinanderzusetzen. Fühle ich mich liebenswert? Kann ich einem anderen Menschen vollkommen vertrauen? Diese Fragen gehen an die Substanz. Verständlich, dass es für Susanna verlockend und „komfortabler“ ist, sich von zahlreichen Aktivitäten und Engagements ablenken zu lassen.

 

Jakobs Ideal- und Real-Ich scheinen so weit voneinander entfernt zu sein, dass ihn die Spannung fast zerreißt. Er fühlt sich angesprochen von dem Ruf Gottes, aber da ist etwas in ihm, das blockiert. Jakob wird sein Problem vermutlich nicht mit geistlicher Begleitung und Exerzitien allein lösen, sondern psychologische Unterstützung brauchen. Berufungspastoral kann ihn dazu ermutigen, sich professionelle Hilfe zu suchen und sich seinen Problemen zu stellen.

 

Berufungswege mit ihren Hindernissen und den einzelnen Schritten sind so unterschiedlich wie es auch wir Menschen sind. Der Blick auf das Ideal-Ich, das Real-Ich und die Art der Spannung in einer Person, kann helfen, um klarer zu sehen, wo es hakt. Dann kann man gemeinsam herausfinden, welche nächsten Schritte hilfreich sein können.

 

 

Sr. Christine Klimann

Artikel aus dem Werkheft (Jubiläumsausgabe "60 Jahre Werkheft", 2022)

 


[1] Eine gute Einführung in die Theorie Rullas bietet: MEURES, Franz, Sich frei machen von allen ungeordneten Anhänglichkeiten. Ein interdisziplinärer Beitrag zur Anthropologie der ignatianischen Exerzitien, in: Korrespondenz zur Spiritualität der Exerzitien 35 (1985), S. 2-69, bes. S. 30-34.