»Die Gnade, im
eigenen Beruf einen Sinn zu erkennen«

ZEIT-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im Gespräch mit der Journalistin Fabienne Kinzelmann - unter anderem über die Frage, für wen er als Medienschaffender da ist.

Giovanni di Lorenzo ist nicht im Homeoffice. „Mein Beruf gilt als systemrelevant. Ein minimales Risiko einzugehen, gehört dazu”, sagt der ZEIT-Chefredakteur. Also ist er in seinem Büro im Hamburger Verlagsgebäude. Und erklärt, wegen der Reisebeschränkungen per Videocall, dass er als Vorbild für seine Redaktion da sein will – vielleicht eine erste Antwort auf die Frage: Für wen bin ich da? „Wie kann ich erwarten, dass auch nur eine Kollegin oder ein Kollege in die Redaktion kommt, wenn ich selbst im Home-office bleibe?” Er lobt das Engagement seiner Mitarbeiter. Der gemeinsame Kraftakt unter erschwerten Bedingungen hat sich gelohnt: Die Auflage ist gestiegen. Im Herbst 2020 liegt sie rund 50.000 Exemplare über dem Vorjahr – und ist mitten in der Krise so hoch wie nie zuvor. Eine Erfolgsgeschichte mit bitterer Note.




Herr di Lorenzo, sind Sie beruflich quasi Corona-Profiteur?

Di Lorenzo: Ein schreckliches Wort, das ich selber nie in den Mund nehmen würde. Aber wahrscheinlich ist es schon so, dass in großen Krisen das Bedürfnis nach zuverlässigen Informationen steigt, die Menschen lesen mehr. Die Frage ist allerdings, ob sie auch dabeibleiben. Während wir uns über Rekordauflagen freuen, sind unsere Werbeeinnahmen und unser Konferenzgeschäft eingebrochen, wenn auch nicht so massiv wie bei einigen anderen Medien.
 
Mussten Sie Stellen abbauen oder Kurzarbeit einführen?
Di Lorenzo: Wir sind auf 90 Prozent der Arbeitszeit heruntergegangen, das war schon mühsam genug. Doch haben wir keine einzige Stelle abbauen müssen.
Das muss wehtun: als Chefredakteur, mitten in der Krise, wenn Journalisten besonders viel zu tun haben. Wie ging es Ihnen mental in dieser Zeit?
Di Lorenzo: Ich hoffe jedenfalls, dass ich noch alle Tassen im Schrank habe. Es war – wie in jeder größeren Krise – eine Zeit, die mich auch im Inneren berührt und zugleich sehr gefordert hat: Es gibt ja kein Muster zur Bewältigung einer solchen Pandemie. Hinzu kamen im Privaten die Sorgen um meine Familie und um meine Freunde.

Sie haben Familie in Italien, nicht?
Di Lorenzo: Ja, auch da, wo das Virus in der ersten Welle besonders heftig wütete: in der Lombardei und in der Emilia-Romagna.

War die Kirche in dieser Zeit für Sie präsent?
Di Lorenzo: Nicht präsent genug. Natürlich gab es Geistliche, die sich unglaublich engagiert und sogar ihren eigenen Tod in Kauf genommen haben, um Todkranke nicht im Stich zu lassen. Ihnen gehört meine ganze Bewunderung und Solidarität. Aber ich habe einen Aufschrei der Kirche vermisst, als Menschen in höchster Not und in der Stunde des Todes alleingelassen wurden. Es ist das Schlimmste, was einem Menschen passieren kann: alleine zu sterben.

Stattdessen kam der Aufschrei etwa von Bodo Ramelow – der sich bei Ihnen in „Christ & Welt” ja auch schon zu seinem Glauben geäußert hat. Er nahm unerlaubterweise an einer Beerdigung teil.
Di Lorenzo: Und ich fand das gut!
Haben Sie sich als Journalist jemals relevanter gefühlt als in diesem Jahr?
Di Lorenzo: Ich empfinde mich persönlich nicht als relevant. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich jemals mehr Sinn in meiner Arbeit gesehen habe: nein. Das ist wirklich eine dieser Zeiten, in denen ich das Gefühl habe, wir leisten etwas, das auch Dienst an der Allgemeinheit ist.

Was haben Sie bei der ZEIT besser gemacht als alle anderen?

Di Lorenzo: Wir haben keine Ausnahmestellung. Wie alle anderen Medien, die diesen Namen auch verdienen, haben wir versucht, Orientierung zu geben, zu informieren, das Wichtige vom Unwichtigen zu trennen. Aber wir haben natürlich untersucht, warum wir so viele Leserinnen und Leser dazugewonnen haben.

Und was war das Ergebnis?

Di Lorenzo: Am interessantesten für uns war, dass viele gesagt haben, dass wir in dieser Corona-Berichterstattung weder alarmistisch noch verharmlosend unterwegs gewesen seien.

In der fünften Ausgabe dieses Jahres hatten Sie noch den Titel „Lebe jetzt!”. Nur eine Woche später mussten Sie titeln: „Der unsichtbare Feind”. Wie haben Sie in dieser Zeit publizistische Entscheidungen getroffen?
Di Lorenzo: Auch in dieser schweren Zeit wollten wir im Blatt immer etwas anbieten, das Menschen Zuversicht gibt, und haben uns genau zwischen diesen Polen – Verharmlosung und Alarmismus – bewegt. Das ist ein schmaler Grat. Sehr früh haben wir einen Titel gemacht, den ich auch im Nachhinein als mutig empfinde. Und zwar haben wir eine Frage gestellt: „Alle Macht dem Virus?”

Sie haben sich angesichts der Pandemie früh getraut, zu zweifeln.

Di Lorenzo: Ja, und dieses Unbehagen werden wir auch bei einem zweiten Lockdown thematisieren. Wenn Sie also einen direkten Blick in die Werkstatt wollen, bitte: Das ist der Befund.

Anm. d. Red.: Das Gespräch fand Ende Oktober 2020 statt. Im November ging Deutschland erneut in den Lockdown.

Was hat Ihnen Halt gegeben in dieser Zeit, was ist Ihre persönliche Leitlinie?
Di Lorenzo: Die Kurzarbeit für alle war für mich sicherlich die schmerzhafteste Entscheidung. Das hat mich belastet. Halt gegeben hat mir der Gerechtigkeitsgedanke: Die Alternative wäre gewesen, gezielt Gruppen herauszugreifen, oder die wirtschaftlichen Folgen auf die Schwächsten abzuwälzen – Teilzeitarbeitende etwa. So, wie wir es gemacht haben, war es, glaube ich, der einzige Weg, um den Großteil der Kolleginnen und Kollegen mitzunehmen. Sie haben gesehen: Hinter dieser Entscheidung steht ein Gedanke, ein Wert.

Rührt dieses Wertebewusstsein aus Ihrer katholischen Erziehung?
Di Lorenzo: Ich denke, mein Glaube spielt bei meiner Arbeit hier bei der ZEIT überhaupt keine Rolle, weil ich nie den Ehrgeiz hatte, zu missionieren. Ich bemühe mich, ein guter Christ zu sein, mit all den Erfahrungen dramatischen Scheiterns, die Millionen andere Menschen auch machen, und mit allen Zweifeln, die Millionen andere Menschen auch kennen. Ich mag damit jedoch niemanden behelligen. Aber natürlich bin ich zutiefst geprägt von der katholischen Kultur.

Im März 2017 konnten Sie Papst Franziskus interviewen.

Di Lorenzo: Diese Begegnung war beruflich wirklich das Beeindruckendste, was ich bislang erleben durfte. Mein Bewusstsein für diese Kultur ist durch das Interview mit Papst Franziskus auch noch mal sehr aufgefrischt worden.

Woran lag das?
Di Lorenzo: An der Person des Franziskus selbst. Aber auch an meiner Vorbereitung auf das Gespräch. Da habe ich noch mal verstanden, was die katholische Kultur eigentlich ausmacht: Neben vielem anderen auch ein besonderes Verständnis für die Fehlerhaftigkeit von Menschen, die dazu führt, dass man ihnen auch leichter verzeiht.

Gerade hat sich der Papst für die Rechtssicherheit homosexueller Paare ausgesprochen, was allgemein als Richtungswechsel in der katholischen Kirche gewertet wird. Empfinden Sie das auch so?

Di Lorenzo: Es fällt natürlich auf. Wenn Sie vor 20 Jahren gefragt hätten, ob ein Papst mal so was sagen würde – ich glaube, niemand hätte Ja gesagt. Was das genau bedeutet, werden wir mit der Zeit schon sehen. Manchmal denke ich ja, es lastet eine solche Erwartung auf diesem Papst, das kann gar kein Mensch erfüllen. Vielleicht speiste sich daraus sein letzter Satz bei unserer Begegnung: ”Beten Sie für mich!„ Diese ständige Überforderung, die offensichtlich da ist. Das macht seine Stellung auch so einzigartig. Eigentlich ist er in Sozial- und Flüchtlingsfragen die einzige linke Stimme, die weltweit noch gehört wird.

Der Papst schrieb im vergangenen Jahr in „Christus vivit” zum Thema Berufung: Du bist für Gott da. Wie verhält sich das bei Ihnen mit dem Journalismus?
Di Lorenzo: Viele sagen ja, sie spüren so einen inneren Antrieb. Ich finde das sehr wichtig, egal in welchem Beruf. Es bereichert das Leben, wenn man so eine „Heimat” gefunden hat. Dahingehend hatte ich auch enormes Glück, als ich mich mit den vielen Handicaps, die ich in der Schule hatte, beruflich orientiert habe.

Kurz vor dem Abitur, mit 19 Jahren, haben Sie ein Berufspraktikum bei der „Neuen Presse”, der Lokalzeitung in Hannover, gemacht, wo Sie dann auch später arbeiteten.
Di Lorenzo: Ich hatte mich nicht mal beworben, der Praktikumsplatz war einfach übrig geblieben. Mein Ressortleiter damals aber war ein ganz toller Mensch. Am zweiten Tag ließ er mich einen Artikel schreiben. Als ich abends nach Hause fuhr, wusste ich: Ich will nie mehr etwas anderes machen. Obwohl das nie meine Absicht war, war es eine richtige Berufung!

Was wollten Sie denn werden?
Di Lorenzo: Manager. Oder Psychoanalytiker. Für beides hatte ich berufliche Vorbilder in der Familie.

Was war es, was Sie umgestimmt hat?
Di Lorenzo: Die Freude an der Recherche, selbst schreiben zu dürfen – und dann auch noch meinen Namen gedruckt zu sehen. Das alles war ein ganz nachhaltiger Glücksmoment. Und die Erkenntnis, dass man als Journalist etwas verändern kann, zum Guten hin.

Hatten Sie jemals das Gefühl, nur für eine bestimmte Zielgruppe da zu sein?
Di Lorenzo: Ich habe früh verstanden, dass es falsch wäre, nur für eigene Kolleginnen und Kollegen oder das eigene Umfeld zu schreiben. Die Menschen, die ein Medium kaufen oder konsumieren, haben in der Regel eine andere Lebenswirklichkeit als man selbst. Insofern habe ich mir oft die Frage gestellt: Ist das, was ich jetzt schreibe, verständlich und vermittelbar für jemanden, der nicht in der Welt zu Hause ist, in der ich es bin?

Trotzdem gilt ausgerechnet Ihre ZEIT als elitäres Blatt für Professoren.

Di Lorenzo: Da widerspreche ich energisch: Wir haben eine Reichweite von fast zwei Millionen Lesern – so viele Professoren gibt es gar nicht. Wir sind nach Bild die mit Abstand größte Zeitung in Deutschland, und das bedeutet, dass wir ein Massenmedium sind. Wir müssen also jedes Mal viele unterschiedliche Interessen und eine sehr heterogene Leserschaft aufs Neue ansprechen. Unterschiedliche soziale Herkünfte, Bildungsgrade, Interessenlagen und politische Orientierungen im Blick zu behalten ist eine spannende und schöne Aufgabe.

Sie lassen mit dem Ressort „Glauben und Zweifeln” und der Beilage „Christ & Welt” auch viel Raum für die kirchenpolitische Berichterstattung und religiöse Themen. Kommt das bei den Lesern an?
Di Lorenzo: Es gibt bestimmt immer noch Menschen, die das als Teufelszeug empfinden, aber es kommen nicht mehr so viele böse Leserbriefe wie am Anfang. Mittlerweile sind das feste und sehr akzeptierte Bestandteile unserer Zeitung geworden. Die Künstlerin Meret Oppenheim hat mal gesagt: Jede neue Idee ist eine Aggression, und auf die reagieren viele Leute erst mal negativ. Ich habe das auch bei der Wiedereinführung des ZEITmagazins erlebt, als wir es gewagt hatten, eine wöchentliche Kolumne mit Helmut Schmidt zu bringen, die dann später Kult geworden ist: „Auf eine Zigarette mit Helmut Schmidt”. Da war die Häme in der eigenen Branche schon groß. Genauso wie bei unserem jüngsten Ressort STREIT, das jetzt viele Nachahmungen findet.

Wie weit sind Sie bereit, für religiöse Themen zu kämpfen?

Di Lorenzo: Ich habe mich für Christ & Welt stark gemacht und für die Glaubensseite in der ZEIT eingesetzt, und ich denke, jeder hat gesehen, dass das keine Umwandlung der ZEIT in ein konfessionelles, gar katholisches Blatt bedeutet. Und ich selbst freue mich auch, dass ich das lesen kann.

Jetzt sind Sie seit 16 Jahren ZEIT-Chefredakteur, feiern ein Auflagenhoch. Es gibt natürlich keinen Grund zu gehen, und trotzdem fragen auch Sie sich sicher, wie es weitergeht. Was kommt bei Ihnen noch?

Di Lorenzo: Natürlich spielen diese Überlegungen eine Rolle. Was meine berufliche Zukunft anbelangt, möchte ich einer Hoffnung Ausdruck verleihen, die vielleicht auch einen Bogen schließt zu meinen Anfängen als Journalist: Ich hoffe auf die anhaltende Gnade, dass ich in meinem Beruf einen Sinn erkennen kann. Je älter ich werde, desto mehr merke ich, was das für ein Geschenk ist!